In argentinischen Tango-Kreisen gibt es einen saloppen Spruch: Qui tocca, no
baila. (Wer spielt, tanzt nicht.) Natürlich kann jemand, der gerade in der engen Umarmung (abrazo) des tango argentino tanzt, nicht gleichzeitig ein Instrument
bedienen. Mir wurde der Spruch aber eindeutig als Verballhornung der „tänzerisch minderbemittelten“ Musiker erzählt.
Aber warum tanzen so wenige Musiker tatsächlich? Meistens dienen Schwimmen, Fitness-Studio und Joggen als Ausgleich und sorgen für Bewegung. Um die einseitige
Belastung durch das Instrumentalspiel auszugleichen, sind das gute Möglichkeiten, aber eine Schulung und Verfeinerung der Körperwahrnehmung geht mit diesen Methoden selten einher. Sie kommen
gut ohne eine Auseinandersetzung mit den eigenen Körper-Geist-Verbindungen aus. Das alte indische System des Yoga, das genau auf die Einheit zwischen Körper und Geist zielt, wird
in den modernen Yoga-Studios leider auch nicht darauf ausgerichtet.
Viele Musiker horchen erst auf, wenn sich starke chronische Schmerzen längst eingeschlichen haben, und ernste körperliche oder psychische Probleme
vorliegen.
Als Musiker sind wir es gewohnt, hart zu arbeiten, über unsere Hindernisse und Blockaden hinaus immer weiter zu gehen, und in vielen Fällen ist die Erweiterung
unserer Grenzen eine Chance auf Wachstum und Entwicklung. Jedoch müssen wir dabei klug mit unserem Körper umgehen; es ist notwendig, seine anatomischen Strukturen und physiologischen Vorgänge
(besser) zu kennen. Gerade bei der hochgradig komplexen motorischen und geistigen Arbeit des Musizierens ist es unerlässlich, auf die Signale hören zu lernen, die unser Körper-Geist-Gefüge uns
ständig sendet – und diese in unsere Arbeit zu integrieren. Täglich erforschen wir beim Üben die Physik unseres Instrumentes; warum erforschen wir nur so selten unseren Körper, wenn es doch
selbstverständlich scheint, dass Körper und Instrument eine Einheit bilden, und nicht nur der Körper sich an die Erfordernisse des Instrumentes anpassen muss, sondern - um unserer Gesundheit und
Freude Willen - vor allem auch umgekehrt! Tänzer und Schauspieler belegen Pflichtfächer, die die Körperwahrnehmung und den Einsatz der Körpers beim künstlerischen Tun trainieren. Musik ist
auch eine zutiefst körperliche Disziplin, was aber bereits die Ausbildungen an der Hochschulen zu übersehen scheinen. Kein Wunder vielleicht, dass viele Musiker dem Irrtum erliegen, die
technische Beherrschung des Instruments reiche für ein glückliches Musizieren.
Um mal beim Tango zu bleiben, der sehr genaue Körperwahrnehmung erfordert, bis er richtig Spaß macht: Die jungen Tango-Lehrer aus Argentinien sprechen von Faszien
und „Spiralen“ und vermitteln ausgeklügelte Bilder, die beim Meistern der Bewegungen und der Technik helfen. Da fließen Kenntnisse aus Pilates, Feldenkrais, Alexandertechnik, Gyrotonic und der
Franklin-Methode ein.
Allen diesen Körperarbeiten ist gemein, dass sie quasi von Innen nach Außen arbeiten. Es geht nicht darum, dass die Hand, das Bein oder die Haltung so oder anders
aussehen müssen. Vielmehr liegt der Akzent darauf, den eigenen Körper zu verstehen, mit ihm in Kontakt zu treten, und daraus die Bewegung entstehen zu lassen.
Warum spricht kein Musiker von seiner Achse? Wissen wir überhaupt, wo unsere Mitte ist, wie wir diese auf- und mit dem Rest unseres Körpers ausrichten? Soll das etwa unwichtig sein für den Klang, unser Befinden, unsere äußere und innere Haltung?
Es ist Musikern und Musiklehrern längst bekannt, dass ein Fokus, der sich auf die rein technische Beherrschung des
Instruments beschränkt, zu eng ist. Die „Launen“ des Instruments sind nicht seine eigenen, sondern ein Spiegel des seelischen Befindens des Instrumentalisten, seiner mentalen Funktionen und
körperlichen Vorgänge - dies sind Phänomene, die trotz aller Perfektionierung der Technik in einem komplexen Zusammenspiel aufeinander und auf die Umwelt einwirken. Wie viel Druck der Bogen auf
der Saite ausübt und mit welcher Geschwindigkeit, wirkt sich auf den Klang aus. Diese Faktoren wiederum hängen sehr wohl davon ab, ob meine momentane Stimmung leicht und beschwingt ist, ich mich
selbstbewusst und frei fühle, oder niedergeschlagen, verunsichert und überfordert bin. (Verschiedene Stimmungen lassen je einen anderen Muskeltonus messen.)
Musiker dürfen sich ein Beispiel an Tänzern und Schauspielern nehmen, und die Verbindungen zwischen Geist, Körper und Instrument für ihre persönliche und künstlerische Arbeit nutzen. Dazu bedarf
es Übungen und Methoden, die die Musiker an diese Art der „Forschungsarbeit“ heran führen, denn sie sind von Kindheit an meistens darauf konditioniert, einfach ihr tägliches Übepensum am
Instrument zu absolvieren.
Für die meisten Musiker ist die Beherrschung des Instruments bzw. das Erarbeiten von Stücken eine lebenslange Aufgabe. Wenn wir den Fokus vom technischen Können und über die künstlerische
Fertigkeit hinaus erweitern, wird die Arbeit mit dem Instrument zum „Mich-selbst-üben“ und somit ein persönlicher Weg der Entwicklung und des inneren Wachstums – ähnlich wie die Zen-Wege des
Bogenschießens oder der Teezeremonie.
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Rainer (Mittwoch, 14 März 2018 08:35)
Genial.
Das macht absolut Sinn.
Danke! :)